Ansichten eines  fast  normalen Bürgers
Victor Hugbald im Gespräch mit hajo. Dreyfuß
 Der Kanzler kündigt Reformen an...
   
Agenda 2010
 
... und muß die Opposition dafür nicht um Erlaubnis bitten.
Im März 2003 verkündete Kanzler Schröder das Konzept seiner Bundesregierung zur Reform der Sozial-Systeme. Nach einem guten Dreivierteljahr hatte sich der ungefähre Entwurf zu einem Bündel ziemlich klarer Regelungen kristallisiert.
VH :Was hältst Du von dieser Reform?
hajo. :Was für eine Reform? Das ist doch gar keine Reform.
VH :Wie bitte? Die gesamte Sozial-Versicherung wird doch gerade abgeräumt: Neue Eigenleistungen und Zusatzversicherungen werden eingeführt, schon vorhandene werden teurer. Leistungen werden allenthalben gekürzt, gestrichen und klein-deklariert. Das Rentenalter soll angehoben werden. Und Du sagst hier so ganz seelenruhig: "Das ist gar keine Reform." Was ist es denn sonst?
hajo. :Deutlich weniger als eine angemessene Notbremse. Das Wort "Reform" ist pure Augenwischerei. Was uns der Bundeskanzler da vollmundig als "Agenda 2010" aufgetischt hat, ist ein halbgarer Maßnahmen-Katalog mit nur einem Ziel: Die Kosten der gesetzlichen Sozial-Versicherung kurzfristig zu verringern. "Spar-Paket 2003" wäre treffender. Die unangenehme Aufgabe, die dringend notwendige Reform von Steuer- und Sozial-Systemen wirklich anzugehen, hat er allerdings sehr praktisch in die Amtszeit der nächsten Regierung verlegt. Unser aller Kanzler hat da nur den Schwarzen Peter weitergereicht. Mehr nicht.
 Währenddessen bleibt alles beim alten: Es wird weiterhin schwungvoll vor den Arbeitgeber-Verbänden resigniert, medienwirksam eine kleine Krokodilsträne der Pharma-Industrie abgepreßt und unauffällig von der linken Tasche in die rechte gewirtschaftet.
VH :Hmmm. Und was würde in Deinen Augen eine Reform kennzeichnen?
hajo. :Laß es mich als Gleichnis sagen: Wenn der Karren knöcheltief im Acker holpert, hätte eine Reform zum Ziel, ihn aus dem Dreck zu ziehen und auf den Weg in eine bessere Zukunft zu schicken. Zur Lösung der jetzigen Probleme (zu viel Last oben, zu wenig Pferde vorne, zu viel Matsch unten) braucht es ein Konzept (Ballast abladen, umlenken, anschieben). Dann braucht jede Reform unbedingt noch eine Vision ("Alle kommen dann besser voran"), denn ohne Ziel nimmt niemand gerne Mühen auf sich. Und zu guter Letzt braucht es jemanden, der deutlich genug sagt, was jetzt zu tun sei ("Deutschland packt an."). Dann geht es voran. Ob die Richtung dann auch stimmt, ist noch eine andere Frage. Aber das verstehe ich zumindest unter "Reform".
 Derzeit versucht der Kutscher halbherzig, seinen Karren nicht mehr allzuweit in den Acker hineinholpern zu lassen: Von Gegenlenken in die richtige Richtung keine Spur, er bremst einfach nur etwas ab. Und während im Wagen schon überlegt wird, wer wohl künftig aussteigen sollte, klingt es vom Kutschbock mißmutig: "Nee, so geht das nicht weiter."
VH :Soviel zumindest ist unstrittig: So geht das wirklich nicht weiter. Die sozialen Sicherungs-Systeme brechen zusammen.
hajo. :Ach nee. Das weiß ich schon lange. Ich war doch früher unter anderem auch mal Sozialversicherungs-Fachangestellter, habe ich Dir das schon erzählt?
VH :( irritiert )   Ja, und? Was hat das mit unserem Thema zu tun?
hajo. :( unbeirrt )   Das war in den späten 70ern. Damals hatte ich das Vergnügen, diese Deine zutreffende Prognose als Inhalt der Ausbilung zu genießen. Darf ich das Gelernte mal kurz wiedergeben?
VH :Wenn es denn wirklich  kurz ist...
hajo. :Du kennst mich doch.
VH :Deswegen ja. -- Nun mach schon, es bleibt mir ja doch nicht erspart.
hajo. :Damals also ... -- Ja gut, wirklich kurz.
 Als erstes lernte ich, was ich eigentlich schon ahnte: "Sozial" meint in gewissen Kreisen stets "finanziell", und bei Leistungs-Trägern bedeutet es "Kosten verursachend". Alsdann wurde uns das damalige Prinzip der Sozial-Versicherung dargelegt:
 Wer arbeitet und Geld verdient, gibt davon etwas in den großen Topf. Die jeweiligen Arbeitgeber geben ebensoviel dazu. Wer wegen Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit gerade kein Geld verdienen kann, bekommt etwas. Und Krankheit kostet Dich kein Geld.
 Diese Rechnung geht bei mindestens stabilen Geburtenraten so lange gut, wie mindestens die meisten Haushalts-Vorstände möglichst lange für gutes Geld arbeiten, wobei bitte alle nur ganz wenig krank werden und schließlich die Rentner/innen möglichst schnell an Langeweile sterben. Ansonsten ist der schöne große Topf ziemlich schnell leer.
 Damals schon waren die Faktoren "Bevölkerung" und "Arbeitsmarkt" alarmierend.
 War das kurz genug?
VH :Ich bin überrascht. Aber was wolltest Du bitte damit sagen?
hajo. :Daß die Probleme schon in den 70ern nicht eben neu waren. Seither ist gerade noch der Kostenfaktor "deutsche Einheit" hinzugekommen. Aber irgendwann muß wohl doch mal jemand aufgewacht sein, denn es dämmerte eine Ära der Kommissionen heran:
 Schon 1992 gründete der Bundestag spontan die Enquête-Kommision, die sich genau unserem Thema widmete. Bis diese Kommission im Jahre 2002 ihren sehr ausführlichen "Bericht zur demographischen Entwicklung" vorlegte, hatte sie nicht nur die vielen Aspekte der Fragestellung ausführlich beleuchtet, sondern auch gezeigt, daß sie ihre 800.000 Euro pro Jahr wirklich wert war: Das vielbändige Werk enthält neben aktuellen Analysen auch eine erhebliche Zahl profunder Vorschläge, wie sich der Entwicklung angemessen begegnen ließe. Leider sind die wenigsten davon geeignet, sich überall beliebt zu machen.
 Seit ich von den absehbaren Problemen erfuhr, konnte ich unsere Regierenden somit rund 25 Jahre bei vertrauensvollem Zuwarten und geruhsamer Analyse beobachten. Außer einer "Gesundheitsreform" (sprich: Spar-Paket in der Krankenversicherung) wurde nicht eben viel unternommen, das dräuende Unheil abzuwenden. Das kam erst allmählich mit den Propheten zur Jahrtausendwende:
 Nach dem gescheiterten "Bündnis für Arbeit" versuchte sich in der letzten Legislaturperiode die Hartz-Kommision, zumindest das Arbeitsmarkt-Problem zu lösen. Ich hoffe, die Mitglieder werden nie arbeitslos, denn der Vorschlag, Arbeitslose sollten doch lieber vermittelt als nur verwaltet und bezahlt werden, dürfte ihnen im Arbeits-Amt nicht nur Freunde eingebracht haben. Immerhin wurde die Arbeitslosen-Hilfe gekürzt, die Arbeitsvermittlung hieß hernach "Job-Center", und in den neuen Computern ließ sich in Eigeninitiative viel aktueller (und mit gesparten Papierkosten) nachlesen, daß dort immer noch hauptsächlich hochqualifizierte Fachkräfte gesucht werden.
 Der große Name nach "Hartz" war "Riester", was in meinem Wortschatz "Rentensenkung gegen unrentable Geldanlagen" bedeutet.
 Hernach die knapp unvergessene Rürup-Kommission, deren Aufgabe meiner Vermutung nach hauptsächlich darin bestand, die Ergebnisse der inzwischen historischen Enquête-Kommision in den Themengebieten "Renten- und Kranken-Versicherung" zu lesen und auszuwerten. Da die vielen Vorschläge auch nach politischer und liberal-merkantiler Machbarkeit sortiert werden mußten, sind die Kosten dieser Kommission mit 1.000.000 Euro gewiß angemessen.
 Damit schließt sich der erste Kreis operativer Hektik. Eine Reform kam dabei nicht heraus. Schade finde ich eigentlich nur, daß ich in keiner dieser Kommissionen saß. Immerhin bin ich jung und brauche Geld.
VH :Herzlichen Dank für diese vorzügliche Analyse. Vermutlich hätte ich Dich bitten sollen, auch weiterhin kurz zu bleiben. -- Ich habe immer noch nicht ganz begriffen, was Du eigentlich sagen wolltest. Könntest Du es mir bitte kurz  sagen?
hajo. :Aber gerne. Das Problem ist unserer Regierung schon lange bekannt. Es lautet: "Immer weniger Menschen arbeiten, während immer mehr Menschen wachsende Kosten verursachen. Aus Löhnen und Gehältern kann man das nicht mehr finanzieren. Die Reichen werden reicher, aber die Armen werden zu arm. Das gibt Ärger."
 Die Lösung bestünde darin, die Kosten zu schätzen und dann über Themen wie Steuern, Renten, Krankheit und Arbeitsmarkt nachzudenken: Ganz frisch und ganz von vorne. Wenn das in Hiblick auf machbare Lösungen geschieht, ergibt sich daraus mehr als eine vertretbare Reform. Und ein "soziales Netz" kann es auch weiterhin geben.
 Was ich jetzt beobachte, ist von alledem weit entfernt. Das Beste, was das hektische Flügelschlagen bislang erreicht hat, ist, daß es jetzt endlich alle wissen: "Da braucht's also mal eine gründliche Reform. Fein. Dann hört auf zu labern und macht mal. Ich kann das Wort schon nicht mehr hören."
VH :Jetzt bist Du aber ungerecht. Es tut sich etwas. Und nicht zu knapp.
hajo. :Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, der Karren holpert gerade bergab, und dasselbe Spiel geht nur etwas schneller und heftiger weiter.
VH :Und ich habe den Eindruck, daß unsere gewählten Volksvertreter sich gerade richtig bemühen, die Probleme in den Griff zu bekommen.
hajo. :Na ja, sie arbeiten gerade. Sogar richtig hart. Das muß der Neid ihnen lassen.
VH :Und selbst die Opposition wartet mit konkreten eigenen Reform-Vorschlägen auf.
hajo. :Ach, das meinst Du. Sprichst Du von derselben CDU/CSU, welche ziemlich die ganzen sechzehn Jahre Kohl-Ära voller Gottvertrauen mit zuversichtlichem Aussitzen verbrachte?
VH :Laß das Vergangene ruhen. Jetzt haben sie Vorschläge. Und es empfiehlt sich, hinzusehen.
hajo. :Da muß ich Dir tatsächlich zustimmen. Und es bewegt sich richtig was auf dem politischen Parkett.
VH :( mißtrauisch )  Du stimmst mir zu? Erkläre Dich. Bitte. Kurz.
hajo. :Ich meine jetzt nicht, daß uns anstelle verständlicher und nachvollziehbarer Konzepte nahezu wöchentlich neue Namen um die Ohren gehauen wurden: Riester, Hartz, Rürup, Herzog, Mozart, und alldies mit Zahlen garniert als wären es gewesene Landesfürsten. Ich meine auch nicht die naheliegende Gegenfrage auf "Hartz IV. greift", nämlich: "Wohin?"
VH :Das beruhigt mich sehr. Sondern aber?
hajo. :Naja, Schröders "Agenda" liest sich für mich wie ein formloser Antrag zur Aufnahme in den rechten Flügel der CDU. Das kann die CDU natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Eigentlich möchte sie ja auch gerne auf Kosten derer sparen, die weder übellaunige Lobbyisten schicken noch abwandern können. Aber das konnte sie wegen der anstehenden Landtagswahlen so deutlich nicht sagen, und pfiff sogar ihren zweiten Vorsitzenden zurück...
VH :Da habe ich wohl etwas vergessen. Was war denn mit Herrn Merz?
hajo. :Der wollte doch schon Ende April die Arbeitslosen-Hilfe am Liebsten ganz streichen und arbeitsfähigen Sozialhilfe-Empfängern nur noch bei "Gegenleistung" Geld geben. Sprich: Ganz viele extrem billige Arbeitsplätzchen backen.
VH :Jetzt erinnere ich mich: Damals klang es in allen großen Parteien beinahe, als seien eigentlich alle Arbeitslosen selbst schuld...
hajo. :Weil sich das aber selbst für bayerische Wahlen nicht so gut machte, entschied man sich hier bald schon für dezentes Schweigen, und die Fraktion nahm für geraume Zeit den bequemen Oppositions-Stuhl ein: Einerseits sei für Vorschläge und Lösungen auschließlich und nur allein die Regierung zuständig. Zweitens sei alles schlecht, was von der Regierung käme. Und drittens bräuchte man auch keine eigenen Modelle, wegen Erstens. Mit dem gewaltigen Wahlsieg der CSU in Bayern änderte sich das. Zwar nur kurz, aber dafür heftig.
VH :War das nicht die Wahl, bei der schon die Stimmen von rund 25 Prozent der Wahlberechtigten zur absoluten Mehrheit genügten?
hajo. :Just diese. Damit sah die Fraktions-Vorsitzende die notwendigen Weichen für die Bundestagswahl gestellt und kam dem zu erwartenden Vorstoß des neuen alten Minister-Präsidenten zuvor, indem sie nun doch für ihre Verhältnisse deutlich Stellung bezog. Ihre Rede vom 1. Oktober trug den schönen Titel "Quo vadis, Deutschland?" und trug alle Anzeichen ernsthaften Reformwillens: Angefangen bei charismatischer Rede über ansprechende Optik bis in die kleinen Gesten, vermittelte sie in der gesamten Rede das Bild, die sichere Vision von einer Reform zu haben, würzte dies mit einigen Beispielen für praktikable Ideen und verband alles zu einem schlüssigen Konzept. Wir sahen eine Reformatorin.
VH :Wenn ich Deine Worte so höre, will dieser süffisante Ausdruck in Deinem Gesicht nicht so recht dazu passen.
hajo. :Du hast mich ertappt. Das Beste an dieser wirklich guten Rede war nämlich der Zeitpunkt.
VH :Willst Du jetzt lästern, sechzehn Jahre Regierung und vier Jahre Opposition seien erkennbar genug Zeit für ein brauchbares Konzept?
hajo. :Besser: Die Rede der Gegen-Reformatorin erklang rund zwei Wochen vor der Abstimmung im Bundestag über die "Agenda". Ob da alle Vorschläge wirklich brauchbar und durchgerechnet sind, ist nämlich zweitrangig. Das Gute am Timing ist, der Regierung im richtigen Moment die Schau zu stehlen: "Guckt mal, wir könnten das besser!" Ich muß schon sagen: Kompliment. Das ist gekonnte Oppositions-Arbeit. Bei so gediegenem Handwerk finde ich es beinahe schade, daß der Schuß nach hinten losging.
 Der besagte Minister-Präsident nämlich war nun im Zugzwang. Gerade hatte die CDU bewiesen, daß sie sehr wohl noch rechts von der SPD zu finden sei. Allerdings so weit rechts, daß dort die CSU einfach herunterfiel und sich flugs einen ungewohnten Platz links von ihrer großen Schwester suchen mußte. Einen ganzen schönen Tag lang tönte der Minister-Präsident vor Schreck schon derart sozial, als wolle er spontan den Jusos beitreten. Dann hatte er seinen Platz links von der Dame gefunden, und der Tanz konnte weitergehen. Das Ergebnis dieser "Reise nach Jerusalem" ist eine tief zerzankte Opposition, die ihre Grabenkämpfe über die nächste Kanzler-Kandidatur am Thema "Steuer-Reform" geradezu öffentlich austrägt. Um es farbig zu sagen: Die Schwarzen werden grünstichig.
 Insofern hast Du wirklich recht: Es tut sich etwas. Da ist bunte Bewegung. Noch nie war ein SPD-Kanzler so weit rechts und ein bayerischer Minister-Präsident so weit links. Wenn das so weitergeht, wählen die Ultralinken demnächst CSU. Um ehrlich zu sein: Ich genieße dieses politische Kabarett.
VH :Lach Du nur. Die Folgen wirst auch Du zu spüren bekommen.
hajo. :Ja, was denn? "Alles wird teurer. Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht fressen. Kranksein muß man sich erstmal leisten können. Wer hat, der hat." Derlei weise Worte haben wir vor weniger als hundert Jahren noch gehört. Das Ende der fetten Jahre wird eingeläutet, und wir werden uns noch an ganz andere Aussprüche erinnern. Das war absehbar, und es ist nicht schön, das mitanzusehen.
 Also gönn' mir wenigstens den Spaß, wenn "Die da Oben" von "Reformen" tönen, ohne das wirklich zu meinen. Solange sie sich dabei so schön öffentlich blamieren wie unserertage, hat das zumindest einen gewissen Unterhaltungswert.
Dezember 2003