Ansichten eines  fast  normalen Bürgers
 
Lästern verboten

Die "Langnasen-Karikatur" einer deutschen Boulevard-Zeitung hat weltweit eine Welle von Protesten ausgelöst. Eine Sprecherin der EU-Grünen nannte das Bild "unverhohlen sexistisch" und forderte "mehr Anstand und Respekt vor politischen Gefühlen". Auf der gestrigen UN-Sondersitzung verurteilten Vertreter aller Demokratien das Bild einstimmig als "ehrfuchtverletzend". Währenddesssen weiteten sich die Proteste in den demokratischen Ländern aus. Zeitungsgeschäfte gingen in Flammen auf. Der Druck des Buches "Pinocchio" wurde weltweit eingestellt. In einigen Ländern wurden die Spielwaren-Abteilungen von Kaufhäusern geplündert und allen Pinocchio-Puppen die Nasen abgesägt. Die Internet-Adresse "pinocchio.com" wurde von Hackern lahmgelegt. In verschiedenen Städten wurden Pizzerien mit dem Namen "Pinocchio" das Ziel gewaltsamer Übergriffe. Australien hat angekündigt, Pizza und Sauerkraut zu boykottieren.

Falsche Meldung (?).
Dann noch mal von vorn.

Ällä - Bäh !
Ein Kinder-Märchen

Es waren einmal in einem kleinen Dorf ein paar blonde Kinder. Die waren hübsch sauber und ordentlich, jedoch auch etwas ängstlich. Am meisten bangte ihnen vor den Nachbarskindern mit den dunklen Haaren. Also streckten die blonden Kinder eines Tages den dunkelhaarigen die Zungen heraus und riefen: "Ällä-bäh! Ihr seid doof!" Natürlich taten sie das nicht etwa auf offener Straße, sondern hübsch sicher hinter den sauberen Fenstern ihres guten Elternhauses, dessen ordentliche Gardinen so freundlich aussahen.

Die dunkelhaarigen Nachbarskinder ärgerten sich darob so sehr, daß sie zum Dorfschullehrer gingen, um zu petzen. Der aber belehrte sie, im ganzen Dorfe könne einjeder im eigenen Hause tun, was er will. Punktum, basta und Ende. Verärgert stapften die meisten der Kinder nach Hause. Eines aber war so ärgerlich geworden, daß es bis ins nächste Dorf stapfte, um dort ein paar Freunden zu berichten, daß neuerdings freche blonde Kinder vom Lehrer in Schutz genommen würden.

Die wunderliche Mär fand ihren Weg von Kind zu Kind, von Dorf zu Dorf, und je weiter sie getragen wurde, desto ärger wurde sie. Bald schon kam aus dem fernen Reich des Dunklen Herzogs ein Bote in das kleine Dorf geritten. Der sollte erkunden, ob es wahr sei, daß dort alle Blonden alle Dunkelhaarigen unter dem Schutz von Schule und Kirche lauthals verspotteten. Auf seinem Wege kam er durch viele hübsche kleine Dörfer, in denen hinter sauberen Fenstern mit ordentlichen Gardinen freundliche blonde Kinder begeistert "Ällä-bäh!" machten. Über den Türen dieser Häuser aber war stets ein Schild, darauf das Wort "Hausrecht" weithin sichtbar prangte.

Wie durch ein Wunder vertrugen sich da plötzlich der Dunkle Herzog, der Dunkle Graf und sogar der Dunkle Baron miteinander, ja selbst im weit entfernte Reich des Dunklen Königs beteiligte man sich am düsteren Unmut ob der dreisten Blondzüngler. Und so verboten die Dunklen Herrscher den blonden Flachs, brannten den blonden Weizen nieder, verschmähten das blonde Bier und verlangten neben dem untertänigen Kniefall aller blonden Könige natürlich auch die Zungen aller gottlosen Frevler. Da wurden die blonden Kinder in den kleinen Dörfern noch etwas ängstlicher als zuvor.

So begann damals die Mär, die auszog, um als "Älläbäh-Krieg" in die Geschichtsbücher einziehen zu wollen – und schließlich von der Geschichte den ihr zustehenden Platz am Rande zugewiesen bekam.

Wieder falsch (?).
Also nochmal von vorn?
Diesmal aber richtig?
Na gut.

 
Freiheit und Sünde
eine häßliche Geschichte

Im Kern waren diese Variationen schon mal gar nicht so falsch.

Beispielsweise trifft es zu, daß die vorgeblichen "Karikaturen des Propheten" in einen populistischen Boulevardblatt der wachsenden Fremdenfeindlichkeit im eigenen Lande huldigten. Die unverhohlene Provokation unter dem Schutz der Pressefreiheit trotzte jedoch weniger den Muslims, sondern in allererster Linie der eigenen Ängstlichkeit. Mehrfach gezeichnet wurde schließlich ein Zerrbild des "Islam", wie es in europäischen Medien seit dem Anschlag auf das World Trade Center immer wieder geduldig vermittelt wird: rückständig, gewalttätig, despotisch und roh. – So zeichnet man Feindbilder.

Es trifft auch zu, daß der häufige Nachdruck in weiteren Medien verschiedener Länder nicht allein der Dokumentations- und Informationspflicht der freien Presse geschuldet war. Die emsige Wiederholung der gelungenen Provokation erinnert auch deutlich an das trotzig aufstampfende "Nun erst recht!" von Kindern, die ihr Böckchen austoben müssen. – So klärt man Fronten.

Und es ist zutreffend, daß einer großen Zahl von Geistlichen und Herrschern ausgerechnet dieses Zerrbild des "Islam" sehr gelegen kommt. Zunächst können sie endlich auch einmal christlicher Tradition folgen und (unter vernehmlichem Beifall von Amerika bis zum Vatikan) tiefst empört etwas Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle einfordern. So gestärkt, können sie hernach in der Rolle des unschuldigen Opfers mit dem vertrauten Zerrbild des "Westens" kontern: gottlos, arrogant, doppelzüngig und dekadent. – So bestätigt man Feindseligkeit.

Der erstaunliche Erfolg der Karikaturen nun liegt daran, daß sie die Fundamentalisten gleich mehrerer Parteien bedienen: Sie belegen sowohl Pressefreiheit als auch Sünde. Dazu paßt das sonderbare Bemühen der Beteiligten, alle Vorurteile gründlich zu erfüllen: Jeder handelt so, wie es der andere erwartet.

Je länger der Konflikt geschürt wird, desto ähnlicher wird die Geschichte den schlichten Bildern. Zwar gibt es "den Westen" ebensowenig wie "den Islam". Solch ein einfaches Ganzes bieten schon kleine Dörfer nicht, erst recht nicht Regionen oder Religionen. Aber in der Hand von Scharfmachern bilden einfache Bilder ein vorzügliches Werkzeug. Sie schaffen ein Ventil für diffuse Ängste und unterdrückte Wut. Die Logik der Feindseligkeit gegen alles Fremde ist naturgemäß schlicht. Und sie dient stets heimlich dem eigenen Vorteil auf Kosten anderer.

Der Gewinner dieses Zankes indes stand schon am Anfang fest: die Intoleranz.

Schlußwort

Die obigen drei Blickwinkel auf eine kleine Episode der Weltgeschichte weisen auf einen Punkt, der meistens seltsam unerwähnt bleibt. In seltener Einmütigkeit scheinen sich die Beteiligten um Vertuschung des Wesentlichen zu bemühen. Während man sich hierzu in der islamischen Welt möglichst auf den einen absoluten Punkt der Propheten-Beleidigung konzentriert, ergießt sich im Westen das bewährte Füllhorn von aktuellen Nachrichten, Hintergründen und Diskussionen zu Aspekten, bis interessierte Betrachter den Wald vor Bäumen nicht mehr sehen. Die eigentliche Grundfrage (welche Regeln in welchem Rahmen gelten) wird so erfolgreich in den Hintergrund gerückt – und einem bestmöglichen friedlichen Einvernehmen entzogen. Die beteiligten Fundamentalisten freut's, und in immer schneller drehenden Taumel überbieten sie einander an Dreistigkeit in der Forderung danach, welche eigene kleine Hausregel künftig Ewiges Weltgesetz sein solle.

Aller Verschleierung trotzend, zeigt der Kalender währenddessen weiterhin ungerührt den Höhepunkt der Fünften Jahreszeit an. Und hier endlich liegt sie, die tiefe Logik des Geschehens, bei dem alle Welt bekanntlich närrisch wird und den Kopfstand übt: Wie schon die dargebotenen drei Blickwinkel nahelegen (und das Bild eindrucksvoll belegt), läßt sich die Geschichte leicht dem rheinischen Dreigestirn des Karnevals zuordnen. Und während Prinz und Jungfrau noch unablässig winken, sehnt hier ein Narr den Aschermittwoch herbei.

Demonstrant
paradox: Demonstration
gegen   Meinungsfreiheit

P.S.: Der Narr wurde erhört.
Am dritten Tage, da sein Sehnen online war, hörte der Spuk mit einem Schlag auf.

Februar 2006